Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke by Joachim Meyerhoff

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke by Joachim Meyerhoff

Autor:Joachim Meyerhoff
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-462-31503-5
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch Verlag
veröffentlicht: 2015-11-11T16:00:00+00:00


Es ist groß, hat Locken und glitzert

Da mich die Schauspielschule voll in Anspruch nahm, telefonierte ich nur äußerst selten mit meinem Vater in Schleswig und meiner Mutter in Italien. Im Grunde war ich heilfroh, sie nicht allzu oft zu hören, und wie es in der Schauspielschule lief, für mich zu behalten. Hatten wir früher gemeinsame Sorgen, so hatte jetzt jeder seine eigenen. Mein Vater hatte wie so oft eine neue Frau kennengelernt und zog zu ihr nach Lübeck. Auch wenn ich so tat, als würde mich das freuen, irritierte es mich, im Hintergrund Kinder und eine weibliche Stimme zu hören. Ich war erleichtert, von zu Hause fort zu sein, nicht permanent zu glauben, meine durch Verlust und Trennung zerstörte Familie reparieren zu müssen, und mich stattdessen in die Obhut der Großeltern begeben zu haben. So schwer ich mich in der Schauspielschule auch tat, bei ihnen hatte ich ein neues Zuhause gefunden.

Nach den Rückschlägen mit Mortimer & Co., gab es aus überraschender Richtung doch noch ein Erfolgserlebnis für mich. Um ihren Kleiderfundus zu verkleinern, veranstalteten die Münchner Kammerspiele eine Kostümversteigerung, deren Organisation und Umsetzung komplett in die Hände meiner Schauspielschulklasse gelegt wurde. Anfänglich waren wir nicht sehr begeistert, denn unsere Einnahmen sollten zur Gänze an eine Stiftung für in Altersarmut geratene Schauspieler gehen. Aber dann hörten wir, dass die Versteigerung auf der großen Bühne der Kammerspiele stattfinden würde, und witterten sofort die Chance, diesen sagenumwobenen Ort selbst betreten zu dürfen.

Wir hatten zwei Wochen Zeit, die Versteigerung vorzubereiten, und bekamen mehrere riesige Kästen mit ausrangierten Kostümen. Diese Holzkästen beeindruckten mich. Sie waren übersät mit Stempeln und Aufklebern aus fremden Ländern. In ihnen reisten die Kostüme rund um den Globus, wenn ein Theaterstück zu einem Gastspiel eingeladen wurde. Ich sah kyrillische, arabische, asiatische Schriftzeichen, las Namen wie Paris, Edinburgh, Avignon oder Santiago de Chile.

Es dauerte keine zehn Minuten und wir waren uns einig, dass wir die Kostüme nicht nur versteigern, sondern eine Modenschau machen wollten. Gerrit sollte als der Wortgewandteste von uns den Conférencier geben, Etienne würde mit einem Versteigerungshammer die Zuschläge vergeben und wir anderen auf dem Laufsteg die Kostüme präsentieren. Da viele der Kleidungsstücke für Männer eigenartig klein waren, passte mir kaum etwas. Es war, als ob früher hauptsächlich Winzlinge auf der Bühne gestanden hätten. Dicke hatte es dafür offenbar jede Menge gegeben und Gernot standen mehrere brokatbestickte Hosen ausgezeichnet. Wir saßen in einer großen Garderobe des Theaters herum, schoben vom Flur die geräumigen rollbaren Wunderholzkästen herein und bestaunten die Kostüme. Ein Teil nach dem anderen wurde herausgezogen und anprobiert. Einige der Männersachen passten nur den Frauen und es dauerte nicht lange, da saßen sie in Fräcken und Zylindern auf dem Sofa herum, rauchten und sahen blendend aus, nach Berlin in den Zwanzigerjahren. In vielen Kostümen standen auf eingenähten Stoffetiketten die Theaterstücke, für die sie einst gefertigt worden waren, und auch die Namen der Schauspieler, die sie getragen hatten. Für einen Moment überkam mich die Sorge, hier auf ein Kostümteil meiner Großmutter zu stoßen. Ohne genau zu wissen warum, erfüllte mich das mit Unbehagen.



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